Wingman Mag - Das Lifestyle-Magazin für moderne Männer
Home » Musik » Tom Kessler – AJOLOTE

Tom Kessler – AJOLOTE

Analoge Synthesizer, digitale Instrumente und verschiedene andere Elektronikgeräte bieten ein solches Spektrum an klanglichen, texturalen und rhythmischen Strukturen, die auf akustischem Wege unerreichbar sind, dass ihre Annahme durch Genres, die erweiterte Techniken wie Free Jazz und freie Improvisation lieben, immer nur eine Frage des Wann, nicht des Ob war. Von Rob Mazureks verschiedenen Ensembles, die den avantgardistischen Jazz aus Chicago auf elektronische Pfade führten, bis hin zu den wilden elektroakustischen Studien von Jorrit Dijkstra (siehe „Music For Reeds And Electronics: Oakland“) sind die Ausdrucksmöglichkeiten fast unbegrenzt. Dennoch gehört Tom Kesslers „Ajolote“, die seltsame Melange aus freier Improvisation und Elektronik des mexikanischen Improvisateurs und Komponisten, in keine bestehende Schublade.

Geboren in Guadalajara, war Kessler ein aktiver Teilnehmer an der zeitgenössischen Jazz- und Improvisationsszene Mexikos in den 2010er Jahren, um dann zu Beginn des Jahrzehnts nach Berlin umzusiedeln. Und seine Musik auf „Ajolote“ klingt genau so, wie diese biografischen Fakten nahelegen. Nicht-idiomatische Gitarrenartikulationen, Berliner elektronische Musik und lateinamerikanische Traditionen koexistieren auf dem Album und formieren sich in wechselnden Arrangements von einem Schnitt zum nächsten. Eine geschmeidige, an Bill Frisell erinnernde Gitarrenlinie eröffnet das Album mit ‚Río‘. Doch diese recht vertraute Jazz-Fusion-Ästhetik nimmt bald eine staubige Qualität an, die man normalerweise in Sun Araws twangigem Wüstenrock findet, und zieht einen Schwarm von glitchenden elektronischen Insekten und hüpfenden, unregelmäßigen Rhythmen an. Während diese Elemente umeinander tanzen, ist der Effekt unbeschreiblich fremd und doch völlig fesselnd.

Während Puppen dieses Klangs durch Kesslers Werkkatalog zu hören sind, den er als Leader und Sideman veröffentlicht hat – 2019’s „Nuevo Valso“ mit Bassist Eivind Opsvik und Schlagzeuger Jochen Rückert ist ein großartiges Stück Post-Bop – deutet keines auf den kreativen Puls hin, der hier spürbar ist. Es ist, als ob das Verlassen auf seine Gitarre, selbstprogrammierte Drum-Machines und Synthesizer ihm die Freiheit ermöglichten, die er schon immer ersehnt hatte. Auf ‚Cincuenta y Cinco‘ materialisiert sich diese Vision in Form von minimalistischen Meridian Brothers, mit Cumbia-ähnlichen Phrasen, die gegen Four-on-the-Floor-Muster und Grooves anprallen. Trotz des harten Rhythmus des Stücks ist die gesamte Stimmung jazziger, während Gitarrenlicks und Synthie-Strahlen einen wirbelnden Improv-Dialog führen.

Andernorts ist ‚Carraca‘ in seiner schüchternen Art ganz perkussiv. Digitale Geräusche schleichen sich um punktuelle Becken-, Hi-Hat-, Snare- und Tom-Schläge, ähnlich wie Finger, die durch die Luft greifen und versuchen, sich ihren Weg durch einen unbeleuchteten Korridor zu ertasten. Als sie schließlich die Tür am Ende erreichen, befinden sie sich mitten auf einer intensiven Party, die von Salsa, Rumba und jeder anderen vorstellbaren lateinamerikanischen Tanzmusik angeheizt wird. Derselbe Sinn für Freude und kreative Freude steckt die restlichen Schnitte an, von der festlichen Ekstase in ‚Festín‘ bis hin zum Gefühl eines endlosen Sommers des volkstümlichen ‚San Juan Cosala‘. ‚Viogani Rifegoa‘ rundet dieses geniale, ziemlich köstliche Album mit Anspielungen auf robusten Avantgarde-Rock ab, der aus zerlegten Beats und Gitarrengrunzen im Stil von Marc Ribots Ceramic Dog besteht.