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deVon Russell Gray / Nathan Hanson / Davu Seru – WE SICK 

Es gibt bestimmte Momente im Leben, in denen ansonsten banale Räume und Objekte von tieferer und lang anhaltender Bedeutung heimgesucht werden. Wir schreiben den 28. Dezember 2020. Der Pianist deVon Russell Gray, der Saxophonist Nathan Hanson und der Schlagzeuger Davu Seru spielen in einer Kirche gegenüber dem Kapitol des Bundesstaates Minneapolis und nehmen das auf, was später zu „We Sick“ werden würde. Hätten sie dort auch nur ein Jahr zuvor gespielt, wäre dieser Ort nur eine Fußnote im Booklet des Albums gewesen. Aber wir schreiben den 28. Dezember 2020. Die COVID-19-Lockdowns sind in vollem Gange, und die aufgestaute Wut der rassistischen Unterdrückung entlädt sich nach dem Mord an George Floyd. Die Kirche ist leer, und die Polizei besetzt das Kapitol des Bundesstaates in Saint Paul.

Während wir beginnen, die Pandemie und die damit verbundenen Gefühle zu vergessen – obwohl immer noch jeden Tag viele Menschen an der Krankheit sterben – bleibt der Kampf gegen den strukturellen Rassismus eine schmerzliche Konstante. Die improvisierte und spontan komponierte Musik auf „We Sick“ spiegelt die brennende Wut, Hoffnung, Hingabe und Entschlossenheit der drei Musiker wider, während sie ihre Empfindungen und die sie umgebende Realität in kraftvolle Stücke formen. Der resultierende Klang ist wunderschön und erinnert an die Tradition der AACM sowie an Größen wie Roscoe Mitchell, Art Ensemble Of Chicago und Anthony Braxton. Er kann sich von lyrischen Schlagzeug- und Klaviergesprächen in zitternde Trio-Ausbrüche verwandeln.

Doch ‚Letters‘ eröffnet das Album weder mit diesen Elementen, sondern mit einer Reihe von zögerlichen Phrasen, Klicks und kurzen Atemzügen von Hanson, die um Serus hallende Beckenschläge kreisen. Bald erhebt sich aus diesen Fragmenten ein anhaltender, klagender Saxophonton und schafft Raum für Gray, einen zerstückelten Klavierlauf zu entfalten, während ihr Austausch sich zu einem nervenaufreibenden Thriller und einer hitzigen Auseinandersetzung entwickelt und die langsam einsinkende Erkenntnis einer düsteren Situation nachahmt. Im Laufe der Jahre wurde die revolutionäre Energie des Free Jazz oft beruhigt und folgte der üblichen Erzählung, Politik aus der Musik herauszuhalten. Obwohl nicht so wörtlich wie bei einigen ihrer Zeitgenossen – Matana Roberts liest während ihrer Konzerte die Namen schwarzer Menschen vor, die von der Polizei getötet wurden – kanalisieren Gray, Hanson und Seru durch jede ihrer musikalischen Ausdrucksformen dieselbe Empfindung von Aufstand und Feuer.

Auf ‚They Stay Breathing Here‘ reißt Hanson einen schimmernden Blues auf und drückt ihn gegen dringende Klavierausbrüche und Snare-Schläge. In seinem Spiel finden sich Anflüge von verheerender Melodie, während ein Gefühl des Fortschritts aus den Untertönen von Rhythmus und Groove aufsteigt. Die beiden Abschnitte von ‚Solve for Malcolm‘ sind längere Zentralstücke, die Malcolm X und seiner Rede von 1963 „Der Hausneger und der Feldneger“ gewidmet sind, deren Botschaft des individuellen Handelns das Trio inspirierte. Im ersten Teil erzeugen sich wiederholende Klavierarpeggios, sparsame Beckenberührungen und schmetternde Saxophonlicks eine Atmosphäre rebellischer Provokation, nur um von einer grollenden Tom-Tom vorangetrieben zu werden, die mit einem marschierenden, martialischen Rhythmus alles vorantreibt. Der zweite Teil hingegen schwelgt in einer traurigen Lyrik, wechselt von langen Stillepausen, unterbrochen nur von gedämpften Klavierschlägen und Seufzern der Blasinstrumente, zu einer schwebenden, glorreichen Free-Jazz-Hymne.

Gegen Ende liest sich ‚Sanctuary‘ wie ein Liebesbrief an den spirituellen Jazz von Alice Coltrane, mit umkreisenden Saxophonakkorden, die sich in eine herzzerreißende Klangwelle einfügen, die von energischen Klavierstichen und Trommelwirbeln unterbrochen wird. Obwohl „We Sick“ für den Großteil seiner Dauer wie eine ernüchternde Erkenntnis und eine feierliche Akzeptanz eines endlosen Kampfes erscheint, ist das Finale des Albums hoffnungsvoll. Hanson’s schlängelnde Saxophonlinien und Gray’s energetische Akkorde lassen die nächste Seite für eine andere Geschichte offen.