Die Künstlerin Liv.e beschreibt ihr zweites Album „Girl in the Half Pearl“ als die Wiedergeburt ihrer selbst und das Ermöglichen ihrer wahren Identität. Für die in Los Angeles ansässige Künstlerin repräsentiert dieses Album eine neue Ära musikalischen Ausdrucks, die weit über eine einfache Weiterentwicklung des Sounds oder das Verfeinern des eigenen Handwerks hinausgeht. In siebzehn Songs, die die Komplexität von Liebe, Herzschmerz und Weiblichkeit beleuchten, zeichnet Liv.e das Bild einer Befreiung, indem sie die Reife darstellt, die notwendig ist, um Bruchstücke zusammenzufügen, die zuvor durch Emotionen wie Angst und Schmerz zerrüttet wurden. Mit ihrem Fokus auf Wiederaneignung und Wachstum zeigt „Girl in the Half Pearl“ Liv.e in ihrer authentischsten und ehrlichsten Form, was ihr wiederum Raum lässt, ihre avantgardistischen Erkundungen von Genre und Form fortzusetzen.
Seit ihrer EP „FRANK“ aus dem Jahr 2017 vermischt Liv.e gekonnt Neo-Soul mit experimenteller Produktion, eklektischem R&B und zerstückeltem Jazz und überrascht bei jeder Veröffentlichung auf unvorhersehbare Weise. „Girl in the Half Pearl“ ist in dieser Hinsicht nicht anders, doch mit der neu gewonnenen Freiheit kommt auch ein zusätzliches Maß an Selbstvertrauen, das sich in der unverhohlenen Dissonanz und Kakophonie des Albums äußert, welche sich gegen Liv.es ebenso feuriges Gebrüll und sanftes Crooning behauptet. Der Opener ‚Gardetto‘ zum Beispiel ist unverblümt mit schweren Breakbeats und Samples unter Liv.es zarten, lo-fi Vocals. Doch die Ungleichheit schafft die Art von chaotischer Klanglandschaft, die ihre Gesangsperformance in den Mittelpunkt rückt, sodass man in dem Aufruhr ihrer Worte und Erfahrungen eingetaucht ist: “When I look inside my brain / there were all these webs of pain”.
Ihr Debütalbum „Couldn’t Wait To Tell You“ stellte Liv.es einzigartiges inneres Monolog und ihre Technik des informellen Storytellings in den Vordergrund, ihre sorglose Zärtlichkeit in den Lyrics durchdrang die Persönlichkeit. In „Girl in the Half Pearl“ wird dies durch zusätzliche Gefühle von Trauer und Anklänge von Dunkelheit verstärkt, was sich in intensiveren Momenten äußert, wie etwa in ‚Ghost‘, wo die hyperaktiven Drum-Breaks und Liv.es wütende Vocals sich mächtig verwickeln.
Das Album bedeutet jedoch keine völlige Abkehr von den verträumten Klängen früherer Veröffentlichungen. Tracks wie ‚Lake Psilocybin‘ bestehen aus wachsenden Synthesizern und himmlischen Harmonien und ‚Heart Break Escape‘ versprüht Thundercat-artige Vibes in seiner psychedelischen Soulfulness. Aber insgesamt besteht eine Kante, wie etwa im eleganten und schimmernden ‚Wild Animals‘, wo Liv.es leidenschaftliche Darbietung jederzeit bereit zu scheint, abzuheben, oder in ‚Snowing!‘, mit seinem Kontrast zwischen den hallenden Murmeln und der Videospiel-ähnlichen Melodie. ‚Find Out‘ ist der Inbegriff von Selbstliebe; die helle und luftige Begleitung des Songs schwebt ruhig neben Liv.es emotionalen Reflektionen über Herzschmerz und die Herausforderungen des Weitermachens.
„Girl in the Half Pearl“ ist in vielerlei Hinsicht eine Metamorphose, die den Stress, die tiefe Introspektion und die letztendliche Akzeptanz einfängt, die Hand in Hand mit dem Wunsch nach völliger Freiheit gehen. Es ist ein Album, das schwer zu kategorisieren ist, aber seine methodischen Beats, die fremdartige Produktion, die faszinierend chaotischen Melodienkonflikte und die dunstigen Vocals verschmelzen auf unerklärliche Weise, während Liv.e sich immer weiter diesem wichtigen Durchbruch nähert.