Plan 75 – Eine dystopische Vision der Zukunft, die uns heute schon einholen könnte

Es ist kaum vorstellbar, dass ein Film, der auf einem so grausamen und herzzerreißenden realen Ereignis basiert, solch eine faszinierende und gleichzeitig verstörende Vision der Zukunft entfalten könnte. Doch genau das gelingt Chie Hayakawa mit ihrem eindrucksvollen und beklemmenden Film „Plan 75“. Basierend auf dem tragischen Massenmord in einem japanischen Pflegeheim im Jahr 2016, zeichnet Hayakawa ein dystopisches Bild einer Gesellschaft, die sich vor der Entscheidung zwischen Menschenwürde und wirtschaftlicher Effizienz befindet.

Die beklemmende Atmosphäre des Films wird durch eine Reihe von lose miteinander verbundenen Geschichten erzeugt, die an die ruhige Intensität von Hirokazu Kore-edas „After Life“ erinnern. Dennoch gelingt es Hayakawa, durch eine subtile und nachdenkliche Erzählweise das Thema der Sterbehilfe aus einer neuen Perspektive zu betrachten, ohne dabei diejenigen zu verprellen, die an das Recht auf ein würdevolles Lebensende glauben.

Der Film beginnt mit einer der verstörendsten Szenen: einer nachgestellten Darstellung des Sagamihara-Angriffs, die den Ausgangspunkt für die fiktive Gesellschaft bildet, in der die japanische Regierung einen Sozialplan einführt. Im Rahmen dieses Plans können Bürger über 74 Jahre freiwillig der Sterbehilfe zustimmen und dafür 1.000 Dollar erhalten. Doch das Geld ist nicht der eigentliche Anreiz – es geht darum, einsamen Rentnern, die sich als Last für ihre Mitmenschen empfinden, eine scheinbar gnädige Lösung anzubieten.

Das zentrale Element des Films ist die Geschichte der Hotelangestellten Michi (Chieko Baisho), die sich dem Plan 75 beugt und sich auf ihre eigene Euthanasie vorbereitet. Ihre stille Verzweiflung und Kapitulation vor dem scheinbar unausweichlichen Schicksal sind erschütternd und rührend zugleich. Baishos schauspielerische Leistung erinnert an Chieko Higashiyamas Rolle in „Tokyo Story“, wird jedoch durch eine tiefere Schicht von Verbitterung und einem letzten Aufbäumen gegen das drohende Ende bereichert.

Eine besondere Stärke des Films liegt in der Darstellung der Beziehung zwischen Michi und der jungen Frau, die ihr bei der Vorbereitung auf die Sterbehilfe zur Seite steht. Die beiden entwickeln trotz des bürokratischen Rahmens, in dem sie sich bewegen, eine innige Freundschaft, die an die herzerwärmenden Momente in „Ikiru“ erinnert. Doch die traurige Ironie ist, dass diese Freundschaft nur durch die herzlose Regierungsmaßnahme zustande kommt, die sie letztendlich trennen wird.

„Plan 75“ ist keine Stellungnahme für oder gegen Sterbehilfe, sondern beklagt eine Gesellschaft, in der ein würdevolles Sterben als Kompensation für ein würdeloses Leben angeboten wird. Durch eine ruhige und zurückhaltende Erzählweise wird der Film zu einem zarten, aber eindringlichen Drama, in dem einzelne, stille Momente eine ungeheure Wucht entwickeln. Zugleich entfaltet sich eine unterschwellige Wut auf unsere Fähigkeit, Grausamkeit als Mitgefühl zu verkaufen.

Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass die Produktion von „Plan 75“ von der japanischen Regierung unterstützt wurde. Man fragt sich, wie sie zu ihrer eigenen Rolle in dieser Geschichte stehen, insbesondere wenn im Film das Gerücht aufkommt, dass der Plan 75 aufgrund seines Erfolgs möglicherweise in einen „Plan 65“ umgewandelt werden könnte.

Hayakawas „Plan 75“ ist ein eindringlicher und nachdenklich stimmender Film, der trotz seiner düsteren Thematik eine faszinierende Vision einer möglichen Zukunft aufzeigt. Es gelingt ihr, die ökonomische Diskussion um Sterbehilfe in den Hintergrund treten zu lassen und stattdessen den Fokus auf die menschlichen Schicksale und die Frage nach dem Wert eines Lebens zu legen. Die subtile Inszenierung und die herausragenden schauspielerischen Leistungen machen diesen Film zu einem eindrücklichen und unvergesslichen Erlebnis, das noch lange nachwirkt.

In einer Zeit, in der die ethischen und moralischen Grenzen unserer Gesellschaft immer stärker hinterfragt werden, stellt „Plan 75“ eine kraftvolle Mahnung dar, dass die Menschlichkeit nicht hinter wirtschaftlichen Interessen zurückstehen darf. Mit seiner beklemmenden und zugleich einfühlsamen Erzählweise regt der Film dazu an, sich mit den Konsequenzen einer solchen Gesellschaft auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, was wirklich zählt. Hayakawas „Plan 75“ ist ein wichtiges und beeindruckendes Werk, das die Zuschauer lange beschäftigen und zum Nachdenken anregen wird.